ArchiveApril 2018

Klassengespräche: Tanja Abou im Interview

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Wie bist du dazu gekommen, dich mit Klasse/Klassismus auseinanderzusetzen?

Klasse und Klassismus waren – bewusst oder unbewusst – schon immer Teil meines Lebens. In der Schule wurde ich als „asozial“ bezeichnet. Ich kannte damals die Dimension dieses Begriffes nicht, aber ich wusste, dass es etwas damit zu tun hatte, dass meine Familie materiell arm war und wir uns viele Dinge nicht leisten konnten. In Politprojekten habe ich später das Vorhaben formuliert, „Mittelklassehabitus in Bildungsinstitutionen“ zu thematisieren. Das war, bevor ich die ganzen Statistiken kannte, die belegen, dass das bundesdeutsche Bildungssystem nach sozialer Herkunft aussortiert – und dass ich als angebliches „Ausnahmekind“ noch von den Ideen der Bildungsreform profitierte. Meine Genoss*innen begegneten dem Vorhaben mit (belächelnder) Skepsis. Heute weiß ich, dass das eine Entmutigungs- und Abwehrstrategie war. Richtig geklickt hat es, als ich an einem Klassismus-Workshop von Leah Caola Czollek und Heike Weinbach teilgenommen habe. Meine Lebenserfahrung und ein theoretischer Rahmen dafür kamen plötzlich zusammen. Seitdem sammle ich Texte, Bücher und Menschen. Ich gebe Workshops, schreibe, zeichne und versuche Leute in Verbindung zu bringen.

Gibt es Texte/Bücher, die dich besonders geprägt haben?

Ich verschenke Michelle Teas „Without a net – the female experience of growing up Working Class“ an jede Working Class/Poverty Class Person, von der ich weiß, dass si*er Englisch lesen und verstehen kann. Michelle Tea hat eine Textsammlung von Menschen erstellt, die selber von Klassismus betroffen sind – und wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich es bis heute nicht ganz durchgelesen habe. Nicht, weil es mich nicht interessiert, aber ich muss das Buch – wie viele andere auch – immer wieder weglegen, weil ich schlichtweg Rotz und Wasser heule, wenn ich ein Buch lese, wo ich an die Erzählungen anknüpfen kann. Weil ich dann von Leuten lese, dass mein Gefühl richtig war, dass es eine systematische Unterdrückung und Diskriminierung von materiell armen Menschen gibt. Und dass sich diese Unterdrückung in Worte fassen lässt.

Im deutschsprachigen Raum begleitet mich „Klassismus“ von Heike Weinbach und Andreas Kemper seit Jahren. Mein Exemplar ist ganz abgegriffen und hat albern viele Haftmarker, die mit Stichworten beschriftet sind. „Mit geballter Faust in der Tasche“ war für mich erheiternd und erleichternd, weil da mal andere Genoss*innen die Klassenkonflikte in der Linken thematisieren.
Besonders gefreut hat mich, dass einige der Texte in einer Radiosendung vertont wurden. Ich mag unterschiedliche Vermittlungsmedien. Ich habe zuhause eine kleine Bibliothek, die sich ausschließlich dem Thema Klasse/Klassismus und möglichen Intersektionen widmet. Alles hier aufzuzählen würde hier den Rahmen sprengen – aber ich möchte noch „Class Matters“ von Betsy Leondar Wright erwähnen. Das Buch ist von einer Gruppe von Aktivist*innen, die sich damit auseinandersetzen, wie ein Dialog zwischen den Klassen funktionieren kann. Es gibt auch eine Homepage zu dem Buch, die ich oft nutze, um Material für Workshops zusammenzustellen.

Immer wieder erzählen mir Menschen begeistert von deiner Bildungsarbeit bzw. deinen Klassismus-Workshops. Was kann mensch sich darunter vorstellen und wo gibt es mehr Infos dazu?

Ich freue mich sehr über das Kompliment. Ich gebe seit knapp 10 Jahren Workshops. Ich habe die Ausbildung zur Social Justice Trainerin bei Leah Carola Czollek und Heike Weinbach gemacht. Viele der Elemente, die ich dort gelernt habe, verwende ich in meinen Workshops. In den Workshops fokussiere ich in erster Linie die Ebene der Diskriminierung. Das wird von Genoss*innen stark kritisiert, die der Auffassung sind, dass damit die strukturelle Ebene verloren geht. Aber für mich ist es wichtig zu verstehen, wie sich die Vorurteile gegen materiell arme Menschen in struktureller Unterdrückung manifestieren. Feministische Wissenschaftskritik hat mir geholfen zu verstehen, dass die Kontextualisierung dieses Erfahrungswissens ein wichtiger Bestandteil politischer Bewegungen ist. Ich unterscheide zwischen Info- und Empowermentworkshops. Im Anschluss an Infoworkshops biete ich mittlerweile immer einen Empowermentraum an, um mit Betroffenen zu sprechen und sie zu vernetzen.

Warum denkst du ist es wichtig, sich mit Klasse/Klassismus zu beschäftigen und siehst du diesbezüglich Leerstellen in linken/feministischen Bewegungen?

Die Frage nach den Leerstellen lässt sich für mich leichter beantworten, als die Frage, warum ich es wichtig finde, sich mit Klasse/Klassismus zu beschäftigen. Meine Herzensgenossin Julia Roßhart hat ein ganzes Buch zu „Klassenunterschieden im feministischen Bewegungsalltag“ geschrieben, in dem sie sich auf Texte bezieht, die wir begeistert untereinander ausgetauscht haben. Für mich waren die Texte der Prololesben, die beschrieben, wie sie von bürgerlichen Genoss*innen sprachlos gemacht wurden bezeichnend dafür, wie eine Mittelklasselinke die wenigen Arbeiter*innen- und Armutsstimmen unter ihnen zum Schweigen bringt und lächerlich macht, und wie wichtig es ist, sich zusammenzuschließen. Ich sehe Wiederholungen in der Geschichte, wann immer es punktuell solche Zusammenschlüsse gab – die dann wieder in der Unsichtbarkeit verschwanden. Ich denke, dass es deswegen wichtig ist, sich mit Klasse/Klassismus zu beschäftigen, damit diese Geschichten nicht wieder verloren gehen – und sie auch zu verknüpfen mit einer Verfolgungsgeschichte, die weit über die Geschichte der Verfolgung der Asozialen im Nationalsozialismus hinausreicht.

Hast du den Eindruck, dass Klasse/Klassismus aktuell in Wissenschaft und öffentlichen Diskussionen wieder eine größere Rolle spielen als noch vor 10 Jahren?

Ich habe den Eindruck, dass beharrliche Interventionen unterschiedlicher Aktivist*innen dazu geführt haben, dass Klassismus als politisches Thema nicht mehr ignoriert werden konnte. Es gibt Schwerpunktausgaben verschiedener politischer Magazine, die Feuilletons lassen so genannte „Bildungsaufsteiger*innen“ zu Wort kommen und „Klassismus“ lässt sich mittlerweile googlen, ohne dass auf „Klassizismus“ korrigiert wird. Das freut mich, aber es macht mich auch skeptisch. Ich würde mir wünschen, dass das Thema Klasse nachhaltiger in die Arbeit der queerfeministischen Linken integriert wird und nicht wieder verdrängt wird. Ich weiß aber auch, dass es weiter die Beharrlichkeit der betroffenen Genoss*innen braucht, wenn das nicht passieren soll. Ich habe ein Buch von Alexandr Bogdanow, „Die Wissenschaft und die Arbeiterklasse“, wo die Grundzüge dessen, was ich in meinen Workshops vermittle, schon 1920 artikuliert wurden. Ich finde es mühsam, das immer wieder – gefühlt – von vorne anzufangen.

Arbeitest du mit dem Klassismus-Begriff? Warum/warum nicht?

Wenn ich von Klassimus spreche, wird mir oft vorgeworfen ich würde nur wollen, dass man „netter zu den Armen“ ist. Ich weiß nicht, ob das ein (absichtliches) Missverständnis oder einfach Abwehr von Kritik ist. Für mich ist die Ebene der Diskriminierung nicht zu trennen von der strukuirellen Unterdrückung. Wenn ich nicht artikulieren kann, wie sich Herrschaftsverhältnisse in mein Handeln, Denken und Fühlen eingeschrieben haben, dann kann ich diese Einschreibungen auch nicht verändern. Viel wichtiger sind aber für mich die Rückmeldungen von den Genoss*innen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse, die beschreiben, wie sie über eine Auseinandersetzung mit Klassismus ähnliche „Klick“-Momente hatten wie ich. Mittlerweile gibt es eine ganze Community auf die ich mich beziehen kann. Das macht uns politisch stark.

Wo findet man Infos über deine Projekte/Texte…?

Am einfachsten über das Institut für Klassismusforschung. Ich bin so richtig schlecht im Selbstmarketing und habe keine eigene Homepage mit meinen ganzen Texten und Projekten. Manchmal muss ich selber googlen, um einen älteren Text von mir zu finden. Für dieses Interview habe ich nun über ein halbes Jahr gebraucht (mea culpa) – sonst würde ich sagen: schreibt mir einfach. Aber vielleicht bin ich gerade ein kleines bisschen müde. Das wird schon wieder. Bis ich meine Kräfte wieder gesammelt habe, werde ich mit Begeisterung Projekte wie diesen Blog verfolgen. Vielen Dank dafür!

Weiterlesen: Francis Seeck im Interview

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